Studienreise Polen

Erinnerungen und Eindrücke von Christoph Berger
Biel-Bienne, 1. November 2015

5. bis 10. Oktober 2015 – Sechs Kurstage zum Thema

1918-1945: Polen zwischen Wiedergeburt und Untergang

Krakau – Auschwitz – Warschau – Grunwald/Tannenberg – Mikolajki/Masuren – Warschau

Das Angebot von Roberto Peña, „Geschichte Erleben“, ist ein Versprechen und weckt Erwartungen. Und meine Erwartungen von dieser denkwürdigen Polenreise wurden nicht nur vollumfänglich erfüllt sondern erheblich übertroffen.

Ich möchte mich in dieser kurzen Rückmeldung nicht auf das chronologische Berichten des Reiseablaufs und der so zahlreichen und vielfältigen einzelnen Erlebnisse einlassen: Vollständigkeit würde Dutzende Seiten füllen. Ich nenne lediglich ein paar wenige Eindrücke.

Unter vielem anderem wurde mir auf und durch diese Reise bewusst, was man vielleicht als – nachhaltig prägende – „polnische Bürde“ bezeichnen könnte: die ganz besondere geopolitische Lage des polnischen Sprachgebietes zwischen den Grossräumen Deutschland und Russland und das daraus sich ergebende 1000 jährige Ringen um Eigenständigkeit und Nationalität. Ein Ringen und Kämpfen mit kolossalen Sieg-Erlebnissen (beginnend mit Grunwald 1410; Grosspolen mit den Jagiełłonen im 16., 17. Jh.; die Zweite Polnische Republik nach 1918; etc.) und ebenso kolossalen Enttäuschungen: die Polnischen Teilungen (das „Teilungstrauma“), die Zerschlagung und Zerreibung im 2. Weltkrieg und schliesslich das Fallenlassen des tapferen Verbündeten in aller Stille anlässlich der Jalta-Konferenz vom Februar 1945 durch die Alliierten und Stalin. Dieses leidvolle Auf und Ab wirkt extrem nachhaltig, so scheint mir. Ich denke da etwa an den Sozialanthropologen Prof. Krzysztof Gladkowski, der uns am vorletzten Reisetag in einer lebendigen und trefflichen Analyse die Bedeutung (und politische Instrumentalisierung 1410, 1914 und zur Nazizeit) von Grunwald/ Tannenberg („Schlacht bei Tannenberg“) vor Ort erläuterte. Auf die Frage, ob Polen mit der Demokratie von 1989/90 nun endlich am Ziel angelangt sei, antwortete Gladkowski in etwa: Angesichts der aktuellen Lage – Ukraine-Krise in unmittelbarer Nachbarschaft, Putins Russland – muss Polen wie seit Jahrhunderten wohl dennoch stets mit allem rechnen. Das stimmt nachdenklich.

Schlachtdenkmal Grunwald
Grunwald-Denkmal zur Schlacht von 1410

Wir besuchten Warschau. Stahlblauer Himmel, kühler Wind, grosszügige Chausseen, die im Krieg verwüstete und neu aufgebaute Altstadt, Bernstein-Juwelierläden und gemütliche Kneipen, die eindrucksvollen Gedenkstätten und Museen, und die offenen Menschen. Frägt man nach dem Weg, wird man nicht selten gleich ans Ziel begleitet, und dies niemals devot, stets würdevoll. Man spürt Willenskraft und Stärke. Es erstaunt nicht, dass die grösste bewaffnete Erhebung im durch die Nationalsozialisten besetzten Europa, der Warschauer Aufstand (August bis Oktober 1944), eben hier stattfand. Der Aufstand war erfolglos, Wehrmacht und SS rächten sich aufs Furchtbarste, derweil die Armeen Stalins am gegenüberliegenden Weichselufer Gewehr bei Fuss zuwarteten. Am Warschauer Krasiński-Platz, integriert in die Gebäudefront des polnischen Obersten Gerichts, steht das monumentale Denkmal des Warschauer Aufstandes. Heroisch und zugleich düster steht es für Mut, Zuversicht und dennoch Verzweiflung. Das Museum des Warschauer Aufstands an der Grzybowska 79 ist überaus sehenswert, insbesondere wenn man – wie es Roberto für uns organisiert hat – eine leidenschaftliche polnisch-deutsche Führung beanspruchen darf. Als Kriegsver-schonte, was wir Besucherinnen und Besucher aus der Schweiz sind, scheint man in fremde, irreale Welten zu blicken. Persönlich fühle ich mich hier irgendwie beschämt, man ist versucht zu denken, uns Verschonten fehlten möglicherweise prägende Geschichtserlebnisse und wichtige Erfahrungen – mit entsprechenden Auswirkungen bis auf die heutige Befindlichkeit unseres Landes.

Warschauer Aufstand 44
Am Warschauer Krasiński-Platz, integriert in die Gebäudefront des polnischen Obersten Gerichts, steht das monumentale Denkmal des Warschauer Aufstandes

Wir besuchten den Bezirk des Warschauer Ghettos, das Elendsquartier für die entrechtete jüdische Bevölkerung Warschaus und weiterer Regionen unter deutscher Kontrolle. Es diente ab 1940 bis 1943 hauptsächlich als Sammellager für Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka. Diese von einer Trennmauer umgebene Vorhölle nannten die Deutschen Besatzer zynisch-beschönigend den „Jüdischen Wohnbezirk in Warschau“. Eindrücklich zunächst die schlichte Gedenkstätte, „Umschlagsplatz“ genannt, der Ort, wo sich „umzusiedelnde“ jüdische Menschen zum Bahnverlad ins Verderben einzufinden hatten. Wir hielten eine Weile inne; Sidonie zitierte aus Do-kumenten von Zeitzeugen. – Unweit dieser Stelle steht das Denkmal für die Ghettokämpfer, die im April bis Mai 1943 den – leider erfolglosen – bewaffneten Aufstand gegen die nationalsozialistische Besatzungsmacht wagten. Eine Gedenktafel erinnert sodann an den „Kniefall“ von 1970. Damals, am 7. Dezember, besuchte Bundeskanzler Willy Brandt diese Gedenkstätte und setzte mit seiner Demutsgeste auf den Stufen des Denkmals erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs ein deutliches Zeichen der Reue seitens Deutschlands. Zwar war er der Entrüstung der innerdeutsche Opposition gewiss, doch setzte er so ein Zeichen in die Welt und zugleich den ersten Baustein zu seiner Entspannungs- und Versöhnungspolitik gegenüber Osteuropa, eine Politik, die in den späten 80er Jahren zur Oeffnung des „Ostblocks“ und letztlich im September 1990 zur Deutschen Wiedervereinigung führte. Passend dazu spielte uns Roberto vor Ort die damalige Stellungnahme Willy Brandts und die brillante Interpretation des Geschehens von Egon Bahr vor, beides sehr ein-drückliche Zeitdokumente.

Ganz in der Nähe befindet sich das architektonisch avantgardistische Gebäude Polin, ein Museum der ganz besonderen Art. Nur selten sieht man wohl ein derart besucherfreundlich eingerichtetes Museum. Es wurde erst 2013 eröffnet und bietet in seiner ständigen Ausstellung den Ueberblick über die Geschichte des polnischen Judentums vom Mittelalter bis heute in sehr einfühlsamer Art und zugleich in technischer Perfektion. Der Besuch hat sich sehr gelohnt; für mich war’s eine längst fällige Erweiterung der doch recht rudimentären Geschichtsvermittlung eidgenössischer Prägung zu dieser Thematik.

Wir besuchten Krakau, Polens heimliche Hauptstadt, wie Warschau an der Weichsel gelegen. Der junge polnische Germanist Krzysztof Tomaszyński führt uns zum Wawelschloss mit der ehemaligen Regierungsresidenz und der immensen gotischen Kathedrale, wo die meisten der Könige Polens sowie zahlreiche Persönlichkeiten von herausragender historischer Bedeutung begraben sind. Wir wohnen im Kazimierz, einem Hotel mitten im jüdischen Viertel der Stadt. Abends ein Bummel durch diesen Stadtteil: mehrere Synagogen, jüdischer Markplatz, jüdische Restaurants, jüdische Musik – ein „Stettel“ eben, auffällig ist nur: nichts, was auf die Anwesenheit jüdischer Menschen hinweist. Dazu muss man wissen: 1939 lebten rund 3,5 Millionen Juden in Polen, fast ein Zehntel der damaligen Bevölkerung, heute sind es kaum noch 2‘000 …

Auschwitz liegt wenige Kilometer südwestlich von Krakau. Wir waren an dieser Stätte. Der Inbegriff des Bösen, der Inbegriff des Unverständlichen, des Unfassbaren. Wir beschritten Treppen und Wege, Wege über deren Kies wenige Jahrzehnte zuvor Millionen in den Tod gingen. Soll man, darf man das? KZ-Tourismus? Lange diskutierten wir zusammen diese Frage, hörten uns Texte an dazu, Zeit-Zeugnisse von Betroffenen, Ueberlebenden, sahen Filmdokumente. Die einen, Adorno zum Beispiel, beschwören uns: niemals! Andere betrachten den Besuch als Pflicht der Verschon-ten. Man muss mit sich selbst ins Reine kommen. Der Besuch ist belastend. Ich fühlte mich hier abgehoben, schwebend, überflüssig fast, und dennoch in die Pflicht genommen. Wir, die Generati-on nach 1945, sind für die Naziverbrechen nicht verantwortlich. Wir sind aber, so meine ich, dafür verantwortlich, dass Derartiges nicht verschwiegen wird, dass nachkommende Generationen umfassend informiert sind und dass sie niemals vergessen. Auch dazu kann ein Besuch in Auschwitz beitragen. – In Krakau, an der Ulica Lipowa 4, findet sich auch Oscar Schindlers Emaillefabrik („Schindlers Liste“, 1993 verfilmt von Steven Spielberg). Die Gedenktafel trägt die Inschrift: „Whoever saves one life, saves the world entire“.
Am zweitletzten Tag schliesslich die Busreise nach Grunwald/Tannenberg (wie eingangs erwähnt) und danach die Fahrt nordostwärts, durch die wunderschöne Landschaft Masuren. Weites Land, keine Hügel, keine Berge weit und breit, Birken-, Fichten-, Buchenwälder, zahlreiche Seen, Sumpflandschaften, reich bebautes, oft auch brachliegendes Land. Auch Masuren war vor hundert und vor siebzig Jahren umkämpftes und verwüstetes Land.

Unser sehr gepflegtes Hotel Mazurski Dworek in Mikołajki liegt direkt am Jezioro-Mikołajkie-See. Hier ruhen wir aus, treffen uns beim polnischen Abendessen zur abschliessenden Diskussionsrunde.
Der letzte Reisetag – es wartet die Rückfahrt von Mikolajki nach Warschau und der Flug zurück in die Schweiz – beginnt mit einem beglückenden Sonnenaufgang: der Himmel dämmernd grau bis glas-blau, nun sich blutrot verfärbend, weiss-rauchiger Dunst schwebt über dem See, vor den Inseln und vor den dunklen Fichtenwäldern. Versöhnend irgendwie.

Polen 2015 Mikolajki
Hotel Mazurski Dworek in Mikołajki liegt direkt am Jezioro-Mikołajkie-See

Eine für mich höchst bedeutungsvolle, fesselnde, auch anspruchsvolle und ebenso unterhaltsame Reise geht zu Ende. Ich möchte dem Historiker Roberto Peña ganz herzlich danken für die in jeder Hinsicht sehr gut vorbereiteten und umsichtig organisierten Reisetage sowie das weiter vermittelte immense Wissen zu unserem Thema. Ebenso herzlich danken möchte ich der jungen angehenden Slavistin und Germanistin Sidonie Jeremić. Sie hat uns vier Teilnehmende mit grosser Fachkenntnis und sehr einfühlsam situationsbezogene Einblicke in das Denken und Schreiben polnischer Literaten/Literatinnen ermöglicht. Und sie hat uns ab und an auch mit ihren perfekten Sprachkenntnissen vor allzu langen Geh(Irr-)wegen und Fauxpas‘ in ungewohnter polnischer Umgebung bewahrt. Ueberhaupt: Das „Wechselspiel“ von Geschichtserlebnis ‚sur place‘, zeitgenössischer polnischer Literatur und historischen Ton- und Bilddokumenten war für mich neu, genial und vollauf gelungen. Eben: „Geschichte erleben“ pur, sozusagen.

Auch möchte ich meinen Reisegefährten, der Theres, dem Alfons, dem Freddy, für die anregenden Diskussionen, für Für- und Widerrede, wenn sie angebracht war, für’s Schweigen, wenn es geboten war, danken – und für die Fröhlichkeit bei Speis und Trank zu Klezmer-Musik.

Polen 2015 Gruppenfoto
Sidonie Christoph Theres Freddy Roberto Alfons

Als pdf-Datei: Polen 2015 Bericht von Christoph Berger mit Fotos