Interview mit Sidonie Jeremić

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Sidonie Jeremić schliesst im Herbst 2015 mit dem Master in Slavistik und Germanistik an den Universitäten Bern und Fribourg ab. Sie ist Referentin im Kurs 1918-1945: Polen zwischen Wiedergeburt und Untergang und hilft in der Vorbereitung mit . 

Die polnische Literatur ist den meisten Schweizer Leserinnen und Lesern nicht bekannt – warum?

Die polnische Literatur ab der Mitte des 20. Jahrhunderts fungierte in erster Linie als ein Mittel im Kampf gegen die Besatzer und gegen den Kommunismus, war also ein Sprachrohr des Volkes. Der Leser musste zwangsläufig über Hintergrundwissen verfügen, um alle Metaphern, Vergleiche und Analogien verstehen zu können. Erst seit der Überwindung der politischen Teilung Europas 1989 war ein Bruch mit dieser Art des Schreibens möglich, welcher für die pol-nische Literatur den Zugang zu LeserInnen ausserhalb Polens vereinfachte. Bis dahin hatte sich kein schweizerischer Verlag speziell für polnische Literatur eingesetzt und in den Bibliotheken wurde polnische Literatur in deutscher Übersetzung nicht systematisch angeschafft. Bis heute fehlen zudem oft bei deutschsprachigen Verlagen breit angelegte Informationen über die im Sortiment vorhandenen Übersetzungen aus dem Polnischen.

Dein Highlight der polnischen Literatur?

Ich mag die experimentellen und verrückten Geschichten von Bruno Schulz und insbesondere Witold Gombrowicz. Vor allem Gombrowicz brach radikal mit dem Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. Sein bekanntester Roman, Ferdydurke (1937), handelt von einem Mann, der von einem Zauberer in einen Schul-jungen zurückverwandelt wird und wieder das Gymnasium besuchen muss. Gombrowycz verhöhnt darin provokativ gesellschaftliche Zwänge, amüsiert mit Possenreisserei und sprachlichen Tabubrüchen, führt den LeserInnen damit aber gleichzeitig unangenehme Wahrheiten vor und macht sich nebenbei über die roman-tischen literarischen Visionen von Polen und dem Polnisch-Sein lächerlich.

Welche Themen sind für die Zeitspanne von 1918-1945 in der polnischen Literatur zentral?

Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war geprägt durch patriotische, national-mythologische Literatur, welche, nach einer Welle von Soldatenmemoiren und -erzählungen während des Ersten Weltkriegs, abgelöst wurde durch den Wunsch nach freiem, unabhängigem und apolitischem Schreiben; nach den Worten des sich durch Heiterkeit auszeichnenden Skamandriten Jan Lechoń: „Im Frühling lass mich Frühling sehen, nicht Polen“. Der Optimismus über die polnische Unabhängigkeit ab 1918 zerrann jedoch bald. Die grosse Finanz-krise 1928-1932, das autoritäre Regime der dreissiger Jahre, die wachsende Macht der totalitären Nachbaren sowie ein neues Interesse an der Metaphysik führten in Polen zu einer literarischen Tätigkeit, welche stark von der Idee einer aufkommenden Katastrophe und von Weltuntergangsvisionen geprägt war, was dieser Dich-tung den Namen Katastrophismus eintrug. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs teilte sich das literarische Schaffen in Polen auf: in einen inländischen Zweig und in die Emigrationsliteratur. Die inländische Schreibtätigkeit fand entweder im Untergrund statt oder wurde unter der Ägide der Exilregierung (in den sowjetischen Teilen) und später unter der Leitung der polnischen Kommunisten im Stil des sozialistischen Realismus prosovetischer Prägung verfasst.

Die nationalsozialistische Politik verbot während der Besatzungszeit (1939-45) für die polnische Bevölkerung nach dem Abschluss der Primarschule eine weiterführende Schulbildung. Trotzdem wird geschrieben – welche literarischen Zeitzeugnisse empfiehlst du?

Die allgemeine Absicht der nationalsozialistischen Besatzer war, die geistige und kulturelle Selbständigkeit Polens zu liquidieren und die Bevölkerung auf niedrigem geistigem Niveau zu halten um sie als Arbeitskraft auszunutzen. Die Hochschulen setzten aber im Untergrund ihre Lehrtätigkeit fort, allein in Warschau exis-tierten etwa 70 illegal betriebene Schulen, welche über 20’000 Schüler ausbildeten, unter denen sich auch viele Schriftsteller der Kriegszeit befanden. Mit der strengeren Organisation der Widerstandsbewegung stieg ab 1940 auch die Zahl der Untergrundschriften stark an. Die Widerstandsbewegung bediente sich hauptsächlich der Poesie, weil sie weniger Raum beanspruchte als die Prosa. Zu den bekanntesten illegal vervielfältigten Dichtern der Zeit gehören Czesław Miłosz und Julian Przyboś sowie die Vertreter der Generation der Kolum-busse Kamil Baczyński, Andrzej Trzebiński und Tadeusz Gajcy. Der erste Romanschriftsteller, der es wagte, den Zeitgeschehnissen literarisch Form zu geben, war Jerzy Andrzejewski mit seinen Erzählungen Vor Gericht (1941), Der Appell (1942) und Die Karwoche (1943). Die beeindruckendsten literarischen Zeugnisse für die Zeit des zweiten Weltkriegs und das Leben im Konzentrationslager und den damit verbundenen Erfahrungen von Gewalt und Tod verfasste Tadeusz Borowski, unter anderem mit seinen Erzählungen unter dem Titel Bei uns in Auschwitz (1946).

Geschichte Erleben dankt Sidonie herzlich für das Interview.